„Zuckerbrot und Peitsche“: Untersuchungen zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“ im Kreis Altenkirchen

„Zuckerbrot und Peitsche“: Untersuchungen zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“ im Kreis Altenkirchen
Bildzeile: Ulrike Orthen-Bender und Dr. Thomas Bartolosch (von links) präsentierten Landrat Dr. Peter Enders die druckfrischen Exemplare von „Zuckerbrot und Peitsche“. (Foto: Kreisverwaltung)

Eine regionalgeschichtliche Studie von Gerhard R. Bender – Aufschlussreiche Neuerscheinung und spannende Lektüre – Der Betzdorfer Historiker Dr. Thomas A. Bartolosch gibt Arbeit seines ehemaligen Kommilitonen posthum heraus

Altenkirchen. Eine spannende und zugleich aufschlussreiche regionalgeschichtliche Studie ist erschienen – zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“ im Kreis Altenkirchen. Sie trägt den Titel „Zuckerbrot und Peitsche“. Damit wird auf die Politik der Nationalsozialisten abgehoben, die auch hierzulande ab 1933 versuchten, die Menschen einerseits mit Druck gefügig zu machen und sie andererseits mit Festen und Feiern, Umzügen und Aufmärschen für sich zu vereinnahmen. Die Untersuchung stammt von Gerhard R. Bender (1957-2018), der vor knapp drei Jahren einer heimtückischen Krankheit erlag. Er hatte seine Arbeit im Jahre 1983 am Ende seines Lehramtsstudiums an der Gesamthochschule Siegen – der heutigen Universität Siegen – im Rahmen der Ersten Staatsprüfung als Staatsarbeit vorgelegt. Betreuer und Erstgutachter war damals Professor Dr. Wolfgang Birkenfeld (1932-2011), ein namhafter deutscher Zeithistoriker und Schulbuchautor, der in Siegen Geschichte lehrte. Der Betzdorfer Historiker Dr. Thomas A. Bartolosch, damals Kommilitone Benders und später wissenschaftlicher Mitarbeiter von Professor Birkenfeld, hat die Schrift in leicht modifizierter Fassung im Selbstverlag herausgegeben, ergänzt durch ein ausführliches Editorial als Vorwort sowie einen Bildteil mit Bildunterschriften und Kommentaren am Ende der Publikation. Sie ist trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs flüssig lesbar niedergeschrieben worden und daher gut wahrnehmbar.


Unterstützung durch Kreis und Sparkasse

Die Schrift erscheint mit Unterstützung des Landkreises Altenkirchen sowie der Sparkasse Westerwald-Sieg. Dafür dankte Bartolosch bei einem Gespräch im Kreishaus Landrat Dr. Peter Enders sowie dem Vorsitzenden des Vorstandes der Sparkasse Westerwald-Sieg, Dr. Andreas Reingen. Anwesend war auch die Witwe Gerd Benders, Ulrike Orthen-Bender aus Steineroth, die Bartolosch die Zustimmung zur Veröffentlichung gegeben hatte. Enders unterstrich die Wichtigkeit der Studie für die regionalgeschichtliche Forschung: „Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die sich bewusst an die Zeit der Nazi-Diktatur in Deutschland erinnern und darüber berichten können. Umso wichtiger ist es, dass diese Zeit auch regional weiterhin aufgearbeitet wird.“ Wenige Tage nach dem Gedenktag an die Reichspogromnacht warnte er außerdem vor zunehmendem Antisemitismus nicht nur aus dem politisch rechten Lager.

Bartoloschs Dank galt zudem seinem Sohn Roman Bartolosch, der als Masterstudent der Informatik an der Universität Bonn an der Publikation mitgearbeitet und vor allem für ein gefälliges Layout und ein entsprechendes Cover gesorgt hat. Die Broschüre umfasst 104 Seiten im DIN-A-4-Format und enthält im Bildteil über 70 ausgewählte zeitgenössische Abbildungen, vornehmlich Ansichtskarten und Fotografien aus dem gesamten Kreisgebiet der 1930er Jahre. Als Bildquellen entstammen sie dem Archiv des Heimatforschers Helmuth Bartolosch (1913-2001) oder wurden dem nationalsozialistischen Parteiorgan „Volkswacht“ entnommen, das damals zum Kreisblatt erhoben worden war und absolut linientreu und streng antisemitisch agitierte, wie Dr. Bartolosch hervorhob. Die Studie erscheint in einer kleinen Auflage von 350 Exemplaren und kann ab sofort für 15,90 Euro im örtlichen Buchhandel erworben werden.

Dr. Bartolosch würdigte die Arbeit Benders als erste Monographie zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“ im Kreis Altenkirchen, eine Schrift, die aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive heute nach wie vor aktuell sei. Sie habe in Teilen spätere Ergebnisse der Forschung vorweggenommen, wenn auch „nur“ am regionalen Beispiel. Der Mainzer Wahlforscher Professor Dr. Jürgen W. Falter veröffentlichte etwas später – im Jahr 1991 – eine sehr gründlich recherchierte, viel beachtete Untersuchung mit dem Titel „Hitlers Wähler“, die mit vielen Vorurteilen aufräumte, etwa der Vorstellung, dass Frauen Hitler in Scharen zugeströmt seien. Andererseits bestätigte sich die konfessionelle Bindung der Wählerschaft, die Gerhard Bender bereits herausgearbeitet hatte – für die Menschen im Land an Sieg und Wied. Das betraf  nicht nur die Wahlen in der späten Weimarer Republik, sondern galt auch für die letzten, so genannten „halbfreien“ Wahlen, die im März 1933 abgehalten wurden, also nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ vom 30. Januar 1933. Nachdem Hitler vom greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, hatte es nur noch diese „halbfreien“ Wahlen gegeben, weil die Nationalsozialisten Sozialdemokraten und Kommunisten bereits behinderten und bedrohten, so dass von freien, fairen Wahlen keine Rede mehr hatte sein können.


Studie: „Glücksfall für den Kreis“

Als ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen Benders zeigte sich, dass die Menschen im Kreis Altenkirchen in Siedlungen mit überwiegend katholischer Bevölkerung weiterhin das „Zentrum“ als Partei des politischen Katholizismus wählten und sich gegenüber dem Nationalsozialismus resistent erwiesen, während die protestantischen Wähler zu einem großen Teil für Hitler votierten. Bartolosch hält die Studie insbesondere auch vor dem Hintergrund jüngster politischer Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland wie in Europa für sehr lesens- und bedenkenswert. „Es ist für den Kreis Altenkirchen ein Glücksfall, dass Bender diese Studie durchgeführt hat“, meint der Historiker. Das geschah übrigens weitgehend auf Grundlage von Kopien zeitgenössischer Zeitungen, die ihm „Kommilitone“ Bartolosch damals aus dem väterlichen Archiv zur Verfügung stellte, weshalb sich dieser im Vorwort von 1983 bei ihm für seine Unterstützung bedankte. „So schließt sich der Kreis“, sagt Dr. Bartolosch. Wenn die Arbeit Benders erst heute erscheint, so liegt das daran, dass er sie zu einer Doktor-Arbeit hatte ausbauen wollen, wozu es aber aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr kam.

Gerhard Bender hat sich nicht nur mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ des Jahres 1933/34 im Kreis Altenkirchen auseinandergesetzt, zum Beispiel die Einnahme lokaler Führungspositionen nachgezeichnet, sondern auch das Jahr 1932 als Teil der „Vorgeschichte“ beleuchtet. Er hat sogar noch weiter zurückgeblickt, so dass der Leser Grundzüge der Geschichte des Kreises Altenkirchen vor Augen hat, bevor er mit der eigentlichen Thematik der Untersuchung konfrontiert wird. Wenn Bartolosch den Begriff „Machtergreifung“ nachträglich in Anführungsstriche gesetzt hat, so hat er das bewusst getan, damit sich die Studie deutlich vom nationalsozialistischen Mythos abgrenzt, der 30. Januar 1933 sei der „Tag der Machtergreifung“ gewesen. Mit diesem Tag hatte Hitler noch keineswegs die „Macht ergriffen“. Das war erst nach einem länger währenden Prozess der Fall, der etwa eineinhalb Jahre dauerte. Erst nach einer innerparteilichen  Säuberungsaktion, die im Sommer 1934 infolge des so genannten „Röhm-Putsches“ in der NSDAP vollzogen wurde, gab es niemanden mehr, der Hitler hätte gefährlich werden können. Spätestens nach dem Tod Hindenburgs war das der Fall, dessen Amt als Reichspräsident Reichskanzler Hitler kurzerhand mit übernahm. Der Prozess der „Machtergreifung“ war abgeschlossen. Diese Bewertung damaliger Vorgänge fand bereits in der Arbeit Benders Berücksichtigung, auch wenn er die Anführungsstriche noch nicht setzte.
Als Herausgeber hat Dr. Bartolosch nur einige wenige solcher kleinen, behutsamen Modifikationen am Text Benders vorgenommen, auch um den Charakter der Studie zu erhalten. So ist sie ein Stück weit ein Kind der Zeit der 1980er Jahre geblieben, was sich in den „Vorbemerkungen“ Benders wie auch in seiner „Schlussbemerkung“ zeigt. Diese Passagen würde Bender heute so bestimmt nicht mehr schreiben, ist sich Bartolosch sicher. Andererseits aber machen genau diese Passagen den besonderen Charme der Studie für uns heute aus.